Über Jahrtausende war der Mensch ein Teil der Natur, geleitet von Instinkt, Überlebenstrieb und sozialen Mustern. Die Entwicklung technischer Fähigkeiten, Sprache und Werkzeuggebrauch machte ihn
erfolgreich – doch in seinem Selbstverständnis blieb er lange ein tierisches Wesen mit Intelligenz.
Die Evolution des Menschen ist längst nicht abgeschlossen. Während sich die biologische Entwicklung verlangsamt hat, schreitet die kulturelle, soziale und ethische Entwicklung unvermindert voran.
Der moderne Mensch – Homo sapiens – hat durch Symbolsprache, Religion und Bildung die Fähigkeit entwickelt, sein eigenes Verhalten zu reflektieren und
bewusst zu verändern.
Erst sehr langsam beginnt eine neue Phase: Der Homo Sapiens muss sich weiter enwickeln. Nicht mit genetischem Aussehen und dergleichen, sondern mit Fähigkeiten zu vertieftem systematischem Denken
um die ganze Komplexität der Welt zu verstehen und einordnen zu können und mit integrativer Kompetenz komplexe Systemveranwortung zu erkennen und daraus eine ethische Kompetenz zu
erreichen.
Der Übergang vom Homo Sapiens zum Homo Conscientius – dem Menschen, der sich nicht nur selbst
erkennt, sondern auch seine Wirkung auf das Ganze.
Vor rund zwei-achttausend Jahren, nahezu gleichzeitig in verschiedenen Kulturen, treten Gestalten auf, die nicht nur lehren, wie man überlebt,
sondern wie man leben soll.
Ob Buddha in Indien, Jesus in Palästina oder Mohammed in Arabien – sie alle stehen für einen Übergangspunkt: Der Mensch beginnt sich
nicht nur als biologisches Wesen, sondern als ethisches Wesen zu verstehen.
Auch in den wirklich anderen Kulturen, also ausserhalb der Zivilisationskulturen egal welcher Prägung (amerikanisch, asiatisch, islamistisch oder aus dem alten Kontinent) hat sich auch diese Sicht verbreitet. Dort ist es auch gelungen bereits im Bewusstsein dieses hier beschriebenen Wandels zu leben und das gesellschaftliche Leben daran anzupassen. Ich konnte noch ein paar der letzten dieser Botschafter:Innen für meine Radiosendungen aufnehmen und interviewen.
Statt nur den Körper zu nähren, geht es um innere Haltung.
Statt nur den Clan zu schützen, geht es um Mitgefühl für Fremde.
Statt nur Regeln zu befolgen, geht es um Bewusstsein und Intention.
Diese Bewegungen markieren keine abgeschlossene Veränderung, sondern ein erstes Aufblitzen einer neuen Bewusstseinsdimension: Der Mensch als Teil eines größeren Ganzen, nicht nur im Glauben, sondern als Verantwortungsträger.
Die Veränderung vom Homo Sapiens zum Homo Conscientius ist keine biologische Mutation, sondern eine kulturelle, geistige und psychologische Metamorphose, die sich über Jahrtausende erstreckt – vielleicht über zehntausende Jahre.
Der Homo Conscientius lebt nicht nur im Jetzt, sondern denkt in Generationen.
Er sieht sich nicht getrennt von der Welt, sondern als mit ihr verbunden.
Er ist sich bewusst, dass sein Handeln rückwirkt – auf ihn selbst, auf andere, auf das System.
Diese Entwicklung ist nicht linear. Sie verläuft in Schüben, Rückfällen, Übergängen. Manche Gesellschaften beschleunigen sie, andere bekämpfen sie. Und doch ist sie – tief unter der Oberfläche – bereits im Gange.
In der Gegenwart verdichten sich die Voraussetzungen für diesen Übergang:
Globale Kommunikation schafft Spiegelräume für kollektives Lernen.
Wissenschaft ermöglicht Systemverständnis.
Krisen machen wechselseitige Abhängigkeiten sichtbar.
Junge Generationen fordern neue Maßstäbe für Verantwortung und Mitgestaltung.
Die Frage, ob der Homo Conscientius zur dominanten Lebensform wird – oder eine gescheiterte Zwischenstufe bleibt – ist offen. Doch die Möglichkeit existiert, und sie prägt bereits heute viele Debatten, Lebensentwürfe und politische Bewegungen.
Die Kernaussage des Textes – dass die Entwicklung vom Homo sapiens zum Homo Conscientius keine genetische Mutation, sondern eine kulturelle und ethische Transformation darstellt – wird durch eine breite wissenschaftliche Literatur gestützt. Kulturwissenschaften und Anthropologie unterscheiden klar zwischen biologischer und kultureller Evolution, wobei letztere schneller, intentionaler und lernbasierter verläuft. Der Mensch gilt dabei als besonders anpassungsfähig durch kumulative Kultur – also die Fähigkeit, Erfahrungen über Generationen weiterzugeben (Ayala, 1998), (Parmigiani et al., 2016).
Die Forderung nach einem neuen „systemischen und ethischen Bewusstsein“ ist auch in der Nachhaltigkeitsforschung präsent. Die Idee, dass moderne Herausforderungen wie Klimakrise oder globale Gerechtigkeit eine neue Form von Verantwortungsdenken erfordern, wird als notwendige Weiterentwicklung unseres Selbstbilds diskutiert (Kozlovets et al., 2019), (Vyghovsjkyj & Vyghovsjka, 2019).
Dabei geht es nicht mehr nur um moralische Regeln, sondern um bewusstes Denken in Systemzusammenhängen, das die langfristigen Konsequenzen menschlichen Handelns mit einbezieht – ganz im Sinne des Homo Conscientius.
Auch in der Diskussion um das Anthropozän – also dem Zeitalter, in dem der Mensch zum zentralen geologischen Faktor geworden ist – wird immer wieder betont, dass ein neues Selbstverständnis des Menschen nötig sei: nicht als Herrscher über, sondern als Teil des globalen Systems Erde. Dieses Bewusstsein ist ein Kernmerkmal des Homo Conscientius (Ehrlich, 2002).
Dass sich Menschen zunehmend als ethische Wesen mit globalem Mitgefühl verstehen (wie im Text beschrieben), passt zu Studien über die sogenannte symbolische Intelligenz – eine Fähigkeit, die es Menschen erlaubt, abstrakte Werte, moralische Systeme und übergreifende Weltbilder zu entwickeln (Parmigiani et al., 2016).
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